Mittwoch, 20. August 2014

Ein Technologie-Märchen

Ein die Nachrichten beherrschendes Thema sind die Unruhen in der amerikanischen Kleinstadt Ferguson nach dem Tod eines afroamerikanischen Jugendlichen. Die unklaren Umstände des Vorfalls und eine latent rassistische Geisteshaltung führten zu gewalttätigen Ausschreitungen, Aufmärschen schwerstbewaffneter Polizisten und Einsätzen der Nationalgarde. Amnesty International und die UNO meldet sich zu Wort, Reporter berichten mehr über ihre eigene Verhaftung als über alles andere, und eine neue politische Initiative wurde gestartet: Per Petition – die nötigen Stimmen sind schon zusammen – soll ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, nachdem Polizisten in Zukunft mit kleinen Kameras ausgestattet werden sollen, die ihre möglichen Verfehlungen dokumentieren soll (hier nachzulesen).

Als ich letzteres las, fragte ich mich unwillkürlich, wie so etwas in Deutschland aussehen würde. Wahrscheinlich so:

Eine entsprechende Petition würde an die Bundesregierung eingereicht werden. Nach mehrmonatigen Prüfungen würde die Antwort lauten, dass Polizeirecht Landessache ist und die Bundesregierung daher nicht zuständig sei.

Die Innenminister der Länder würden nach ebenso langen Prüfungen einwenden, dass eine solche Regelung nur bundeseinheitlich Sinn mache (außerdem gibt es ja eine Bundespolizei) und schließlich die Frage aufwerfen, wer das bezahlen solle. Daraufhin würden sich die Privat-Fernsehsender zusammen tun und die Finanzierung anbieten. Im Gegenzug würden sie die Auswertung der entstandenen Bildern in Sendungen wie „Achtung, Kontrolle!“, „Harry und Toto“ und „Big Brother – das Auge des Gesetzes“ erhoffen.

Nach mehrjährigen Verhandlungen würde das Gesetz entsprechend geändert. Der Bundespräsident wird verfassungsrechtliche Bedenken anmelden und die Unterzeichnung verweigern.

Das Grundgesetz wird geändert.

Die Gesetze und damit der Einsatz der Kameras werden beschlossen.

Für mehrere Millionen wird der Auftrag für ein entsprechendes System ausgelöst, bei dem eine solche Kamera am Kragenaufschlag der Polizisten befestigt werden soll. Auftragnehmer wird „Toll Collect“.

Datenschützer melden sich zu Wort und haben Kritik. Die Filmaufnahmen seien nur erlaubt und damit verwertbar, wenn ein Verdacht besteht; unbescholtene Bürger dürfen nicht einfach so gefilmt werden. Daraufhin werden die Kameras für mehrere zig Millionen nachgerüstet und aktivieren sich nun automatisch gesteuert nur noch dann, wenn ein eingebauter Computer einen Einsatz erkennt.

Die Datenschützer sind immer noch nicht zufrieden und haben weiterhin Bedenken: Da das System dazu gedacht sei, Verfehlungen der Polizei aufzudecken und nicht die der Verbrecher, dürfe deren Konterfei nicht zu erkennen sein (mal ganz abgesehen von zufällig ins Bild laufenden Passanten). Die Linken unterstützen das. Für mehrere hundert Millionen wird das System nachgerüstet und verpixelt nun automatisch jedes Gesicht, das gefilmt wird und nicht zu einem Polizisten gehört. Dafür müssen die Kamera-Computer aufgerüstet und erweitert werden.

Nun meldet sich die Gewerkschaft der Polizei und mahnt das Persönlichkeitsrecht der Polizei an. Die Datenschützer stimmen zu und meinen, dass es ja nicht sein kann, dass Polizisten – zumal wenn RTL2 und Tele5 im Boot sind – für alle Zeiten auf Band gebannt sind. Das System wird nun so überarbeitet, dass die Filmaufnahmen im Anschluss sofort ausgewertet werden; unnützes wird per Hand gelöscht. 500 zusätzliche Polizisten werden dafür eingestellt.

Die Linke fragt im Bundestag, was „im Anschluss sofort“ bedeutet, und verlangt eine Echtzeitauswertung. Das System wird noch einmal überarbeitet. Von nun an ist jede Kamera in der Lage, per Funk die gemachten Bilder umgehend in die Zentrale zu senden, wo – nunmehr wirklich „im Anschluss sofort“ – ausgewertet und gegebenenfalls gelöscht wird. Die Linke verlangt dafür das „Vier-Augen-Prinzip“, weswegen weitere 500 Beamte dafür eingestellt werden.

In Bayern wird das System zum ersten Mal im Einsatz getestet und verursacht sofort einen kompletten Zusammenbruch des Funknetzes. Die Innenminister denken an die wirklich kritischen Regionen Deutschlands wie Berlin und entscheiden, das bundesweite Funknetz aufzurüsten. Der Auftrag kostet mehrere Milliarden Euro und sichert Toll Collect eine 500-prozentige Rendite.

Nachdem das Funknetz erneuert ist, ist es mit den Sendern der Kameras nicht mehr kompatibel. Die werden erneut nachgerüstet. Besondere Sorgfalt widmet man der Sendeantenne, wofür man sich Inspirationen beim Deep Space Network der NASA holt. Der Bundesfinanzminister muss Schulden machen.

Bei der Cebit in Hannover ist das Kamerasystem der Renner. Zahlreiche Länder zeigen Interesse, Russland kauft es – allerdings ohne den Datenschutz-Schnick-Schnack.

15 Jahre, nachdem die Gesetzesinitiative gestartet wurde, sind alle bundesdeutschen Polizisten mit dem Kamerasystem ausgerüstet. Aufgrund der Nachrüstungen wiegt es mittlerweile 27 Kilogramm, verfügt über eine zweieinhalb Meter hohe Antenne und klemmt den rechten Arm ein. Die Japaner konstruieren in einem halben Jahr eine Alternative, die nur 20 Gramm wiegt, die Polizisten nicht behindert und mit einer Mignon-Zelle bis nach Thailand senden kann, aber dreimal so viel kostet. Polizisten, die nur 20 Gramm tragen und ihren rechten Arm benutzen wollen, müssen das japanische Modell selber bezahlen.

Noch ein halbes Jahr später bringen die Chinesen ein Plagiat zu einem Zehntel des ursprünglichen Preises auf den Markt. Einziger Fehler: Es lässt sich mit jedem x-beliebigen Smartphone hacken. Das Update, mit dem das verhindert werden kann, setzt unbemerkt eine Standleitung zur NSA.

Niemand weiß mehr, warum das Ganze einmal angefangen wurde.

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